„Just another night in Nantes“, singen Beirut als wir zum ersten Mal auf unserem Airbnb-Balkon stehen und glücklich auf die Erdre schauen. Wir haben es geschafft! Vor uns liegen noch einige Nächte in Nantes und hinter uns vor allem eine knapp 21-stündige Zugreise, die übereilt am Leipziger Bahnhof um 00.34 Uhr begann. Früher als geplant, packen wir unseren Koffer und erwischen noch einen der letzten Züge Richtung Paris vor dem Bahnstreik. Wobei – an Paris war mitten in der Nacht noch lang nicht zu denken. Wir passieren Nürnberg und München. Irgendwann gegen 05.00 Uhr wurde es hell und unsere Rücken schmerzen von der Nacht im Zug. Doch die Energie kehre schnell zurück als wir mit knapp 300km/h und unserem ersten Kaffee in der Hand im TGV nach Paris donneren. Der längere Aufenthalt war nicht unbedingt geplant aber der letzte Besuch in Paris war schließlich auch mehr als zehn Jahre her. „Man muss die Dinge nehmen wie sie kommen“, sagt M. Außerdem soll sich unser Lernfortschritt mit Duolingo doch auch lohnen. Angekommen am Gare de l’Est schicke uns R. zum 10. Pariser Arrondissement. Nach einem Teller „les frites“ beginnt unser Streifzug zum Louvre mit Blick auf den Eiffelturm, Jardin des Tuileries, Place de la Concorde und zurück durch das 2. Arrondissement zum Bahnhof. Unser „Je voudrais un cappuccino, s’il vous plaît“ sorgt offensichtlich noch für Verwirrung. Nach sechs Stunden in Paris befinden wir uns auf der letzten Etappe. Wir spüren es deutlich. Warum Nantes? Vielleicht, weil M. sagte, dass er auf diese Stadt Bock hätte. Vielleicht, weil die Zugverbindung von Leipzig unkompliziert klang. Vielleicht, weil Beirut einen Song darüber schrieben oder aber auch, weil Nantes 2013 zu einer der weltweit fahrradfreundlichsten Städten ernannt wurde – das Gefühl stimmt.
Doch in den vergangenen sieben Tagen wusste ich, warum: Durch das langsame Entdecken und Treiben lassen gewöhnen wir uns schnell an die kleinen Gassen, die eindrucksvollen Brücken, die über die Loire und Erdre führen, die unzähligen Kreisverkehre, den Kontrast zwischen französischer Kleinstadt und Metropole, die vielen Parkanlagen, die überraschend hügeligen Strecken mit denen unsere Bicloo-Bikes kämpfen und die kleinen Boulangerien, die uns immer wieder zu sich locken. Wir fühlen uns angekommen. Vielleicht auch, weil uns Nantes ganz oft an unser Leipzig erinnert. Selten gelingt es mir den Kopf auszumachen, Leipzig gedanklich loszulassen, das E-Mail Postfach nicht im Blick zu behalten oder auf meinen Alltag zu verzichten, weil ich ihn eben auch sehr mag. Doch in diesen sieben Tagen konnte ich mich ganz auf diese neue Stadt einlassen. Alles war komplett. Ich fand sogar etwas in mir wieder, dass ich lange Zeit schon vermisste. All die anstrengenden Wochen, Anspannung, Sorgen, Erwartungen und Druck fielen von mir ab. Ich bemerkte dies erst in diesem Augenblick als ich durch meine Fotos scrolle und Zuhause an meinem Schreibtisch sitze. Mein Weinglas mit vielen Eiswürfeln schwenke und die Playlist „nantes“ mit den Lieblingsliedern der vergangenen Woche sortiere. Die Ruhe und das Leuchten sind zurück. Oder ich entdeckte das französische „C‚est la vie“ wie M. sagte.
Nantes ist eine Stadt im Westen Frankreichs, die in der östlichen Bretagne an der Loire liegt und auf eine lange Tradition als Hafen- und Industriezentrum zurückblicken kann – so viel zur Theorie. Darüber hinaus lernen wir aber, dass der französische Schriftsteller Jules Verne in Nantes geboren wurde und mit seinen Werken für einen unterhaltsamen Minigolf-Parkour sorgt. Dass der wunderbare Illustrator Jean Jullien im Jardin des Plantes riesige Skulpturen installiert, die uns schon am Bahnhof empfangen. Dass ein Mittagessen nach 14 Uhr eher schwierig zu bekommen ist. Dass viele Läden zur Mittagszeit oder auch am Montag schließen. Dass die Île de Nantes nicht wegen des „Carrousels des Mondes Marins“ und der „Les Machines“ als sehenswert gilt, sondern vor allem wegen der Werften, Hangars, in denen sich Kunstausstellungen oder Bars befanden und der eindrucksvollen Wohngebiete im Osten der Insel. Uns verschlägt es nicht nur in das entferntere Örtchen Rezé und das Fischerdorf Trentemoult, sondern auch in das Département Loire-Atlantique nach Pornic – wobei wir das Dörfchen vermutlich eher wie einen kroatischen Badeort aussprechen. Unser Plan sieht vielversprechend aus, denn wir sind scheinbar die einzigen Touristen. Am „Plage de la Noëveillard“ blicken wir auf den Atlantik, finden wunderschöne Muscheln, laufen durch den groben Sand und retten uns zur Mittagszeit vor der Hitze unter großen Felsen. Nach einem Crêpe (aux fraises) mit Cappuccino geht es wieder mit dem Regionalzug zurück. Unser Französisch wird nur langsam besser aber immerhin beherrschen wir die Frage: „Parlez vous anglais?“ – erstaunlicherweise klappe diese Strategie mit einem Lächeln auf beiden Seiten ganz gut. Und falls sich jemand fragt: Im Norden Frankreichs gibt man sich zwei Küsschen. Im Süden hingegen drei.
Wir trinken guten Wein – ich erinnere mich noch an den „Grains de Cocotte“ –, wir probieren Quiche Lorraine, Tarte aux Pommes, Flan-Kuchen, Baguettes, Pistazieneis, Poke Bowls mit Lachs, Pizza mit viel Parmesan, pochierte Eier auf Sauerteigbrot, kochen mit regionalem Gemüse und naschen „les frites“. Wir stöbern uns durch Buchläden, Second Hand-Shops und Boutiquen – ja, das ein oder andere Erinnerungsstück schaffe es in unseren Koffer. Das alles behalte ich in Erinnerung. Ebenso wie die attraktiven, französischen Männer („Können sich bitte Zuhause einfach alle einen Moustache stehen lassen? Danke!“) und meinen Platz auf dem sonnigen Balkon. Mit klirrenden Eiswürfeln im Weißwein. Denn wir lernen, dass in Frankreich keine Weißweinschorle getrunken wird. „It tastes like shit!“, sagt man uns. Früh am Morgen geht es dann von Nantes, über Straßburg zurück nach Leipzig. Das erste „Guten Tag“ im Zug tut fast schon etwas weh und wir erinneren uns an die klangvollen Floskeln: „Bonjour!“, „Merci. Bonne journée!“. Au revoir, Nantes. Merci. Merci M. Die Eiswürfel im Glas sind mittlerweile verschwunden und Beirut singen schon über „The Ripe Tide“. Die nächsten Tage werde ich noch ein wenig in meiner kleinen Urlaubsbubble bleiben und dieses Grinsen im Gesicht so lange wie möglich mit mir herumtragen. Bis ich wieder so ganz zurück sein möchte… bis uns der Alltag wieder einholt.
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