“Versuchen Sie es bitte auch mutig bei meinen Kolleginnen und Kollegen, vielleicht ergibt sich dort ein Termin.” – vor Monaten hörte ich diesen Satz, kurz nachdem ich die wohlklingende Diagnose F33.1 G bekam und meinen Zustand nun nicht länger als Midlife-Crisis abtun konnte. Und auch wenn ich mich viel zu jung für eine Midlife-Crisis halte, so klingt das doch sehr viel lifestyliger als das was ich wirklich habe: Eine diagnostisch gesicherte rezidivierende depressive Störung, aktuell als mittelgradige Episode. Herzlichen Glückwunsch! Lasset die Korken knallen! Mein Hausarzt riet mir, da ich ja schon therapieerfahren sei, den dort erworbenen, metaphorischen Werkzeugkoffer doch mal zu öffnen und die sich dort befindlichen Instrumente einfach mal anzuwenden – und Yoga solle ja auch sehr gut sein. Jürgen (er heißt nicht Jürgen), glaubst du etwa, dass ich nicht schon längst einen Blick in diesen Werkzeugkoffer geworfen hab? Da ist eine verrostete Gabel drin, mit krummen Griff und fehlenden Zacken. Würdest du mich, wenn ich eine Erkältung hätte, auch fragen, wieso ich das nicht alleine in den Griff bekomme, weil ich doch schon mal eine Erkältung hatte?! Natürlich frage ich das nicht, denn so mutig bin ich nicht. Aber ich ahne zwischen all der Frustration irgendwie, dass es Mut sein wird, der mich rettet. Und ich selbst. Und eine gute Therapie. Aber vor allem Mut.
Ich brauche Mut, um mich durch die Listen der Therapieangebote zu telefonieren. Obwohl das Wort “Angebot” eigentlich falsch ist, denn es suggeriert, dass etwas in ausreichender Menge zur Verfügung steht. Der Satz “Ich brauche Hilfe” kommt mir erst schwer über die Lippen, ich muss ihn mir mehrmals im Kopf vorsagen, um ihn dann laut auszusprechen. Er scheint jedoch wie eine neue Jeans zu sein, am Anfang zwickt es noch und ich hab Angst, dass eine Naht reißt und alle meine Unterhose sehen können, aber das legt sich mit der Zeit. Ich brauche Mut, um die bereits verschobene Verabredung abermals abzusagen, weil ich es nicht aus dem Bett schaffe, weil die Vorstellung zu duschen so unfassbar schwer erscheint, weil mein Körper viele Tonnen wiegt. Ich brauche Mut, die Menschen in meinem Leben hinter meine so sorgfältig gemauerte und kunstvoll verspachtelte Fassade blicken zu lassen. Ich brauche Mut, selbst hinzuschauen und nicht nur oberflächlich. Und was ich sehe ist nicht schön. Es ist, als stünde ich in einer tiefen Schlucht, die Berge um mich rum so hoch und finster, dass ich den Himmel nicht sehen kann. Dunkle, tief hängende Wolken lassen der Sonne keine Chance mich ein bisschen zu wärmen.
Aber das ist auch egal, denn ich würde die Strahlen nicht spüren, da ich nichts mehr fühle. Ich merke zwar, dass feiner Nieselregen mein Gesicht benetzt, aber es bleibt eine kleine Randnotiz, die limbisches System kalt lässt. Es ist, als läge meine Seele im Koma, das arme Ding. Knöcheltief stecke ich im Sumpf, der meine Gummistiefel fest umschließt und bei jeder kleinen Bewegung in meine Gummistiefel schwappt. Meine Wollsocken, die meine Füße wärmen sollen, saugen sich mit kaltem Matschwasser voll. Um die verdammte Metapher, die zu meinem Leben geworden ist, zu vervollständigen, trage ich auf meinem Rücken natürlich einen großen Wanderrucksack, der schwer auf meinen verspannten Schultern lastet. Den tragen wir aber schließlich alle, oder? Ich beiße die Zähne zusammen und versuche einen Schritt vor den anderen zu setzen. Manchmal mache ich einen nach vorne und dann drei zurück. Manchmal gelingt es mir sogar einen kleinen Sprint hinzulegen, um dann ordentlich auf die Fresse zu fallen. Aber manchmal folgt auf fünf Schritte auch noch ein sechster.
„Oft wünsche ich mir, meine Depression gegen etwas eintauschen zu können, was leichter zu verstehen ist. Leichter für mich und mein Umfeld. Ein gebrochenes Bein wäre gut.“
Oft wünsche ich mir, meine Depression gegen etwas eintauschen zu können, was leichter zu verstehen ist. Leichter für mich und mein Umfeld. Ein gebrochenes Bein wäre gut. Ich würde nicht versuchen, den Bruch nur mit Fruchtzwergen und Physiotherapie zu kurieren, sondern könnte mir ohne Erklärungszwang einen Gips verpassen lassen. Niemand würde mich warnen, dass ein Gips meine Persönlichkeit verändern und das ich davon abhängig werden könnte. Niemand würde mein gebrochenes Bein anschauen und erstaunt sagen, dass mir so ein Bruch gar nicht ähnlich sehe, weil ich doch sonst immer so fröhlich wirke. Oft nicke ich nur müde, grinse schief und wünsche mir eine glatte Fraktur meines Schienbeins oder einer anderen Extremität. Ich bin so müde, zumindest tagsüber. Einmal nachts so müde sein, wie tagsüber, sagt meine Freundin und ich pflichte ihr nickend bei.
Manchmal habe ich keine Kraft zu sprechen, aber nachts scheint mein Kopf dann zu erwachen und all die Gedanken, die tagsüber ein ruhiges Dasein als Bodensatz pflegten, schwirren jetzt hektisch durch mein Hirn wie Flocken in einer Schneekugel, die zu doll geschüttelt wurde. Ich versuche nicht all den Gedanken Glauben zu schenken, das habe ich schon gelernt. Denn ich darf nicht glauben, dass von mir nichts mehr übrig geblieben ist außer die Diagnose F33.1 G. Diesen Gedanken darf ich nicht zulassen. Also nehme ich meinen schweren Rucksack, meine komatöse Seele und stapfe mutig los. Denn ich weiß, dass es irgendwann aufhören muss zu regnen und dass ich die Sonne wiedersehen werde. Und dass ich mich wiederfinden werde, irgendwo in dieser Schlucht. Ich hab nämlich noch mal in den Werkzeugkoffer geguckt und da lag diese Gewissheit als kleiner Krümel in einer Ecke versteckt.
[Fotos by Robert Strehler Fotografie.]
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