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aber weißt du denn noch wie es früher war. als das früher noch nicht früher war.

Irgendjemand hat mal gesagt, dass Weihnachten ist, „wenn erwachsene Kinder in die Heimat pilgern, um die Technik-Probleme ihrer Eltern zu lösen“. Diesen mir unbekannten Jemand zitierte ich, als ich versuchte, die Soundbox meiner Eltern erst mit dem Handy meines Papas und dann mit meinem zu koppeln – beide Versuche blieben erfolglos und ich gab auf. Schließlich wartete der Rosenkohl auch schon auf seine Behandlung. Weihnachten ist für mich nicht nur die Zeit, wenn ich nach Thüringen pilgere, um an den technischen Herausforderungen zu scheitern, die meine Eltern auch nicht lösen konnten, sondern auch die Zeit für eine eng getaktete Choreografie, deren Ursprung ich nicht unbedingt kenne. Das nennt man dann wohl Tradition.

„Da ist der geschmückte Tannenbaum, der anscheinend ein ebenso anstrengendes Jahr wie wir alle hatte …“

Die Größe und die lokale Verstreutheit meiner Familie führt also zu unterschiedlichen Tanzplätzen, jedoch ist der Song immer derselbe, und zwar „Driving Home for Christmas”. For the record und vor allem für meine Mama: Ich liebe diese Choreografie und die Aneinanderreihung von Momenten. Da ist der geschmückte Tannenbaum, der anscheinend ein ebenso anstrengendes Jahr wie wir alle hatte und sich am liebsten in die Horizontale begeben würde. Da, auch für ihn, aufgeben nicht gilt, wird er kurzerhand an der Heizung festgebunden. Da ist meine kleine Nichte, die beim Besuch des Weihnachtsmanns ungefragt die Fehltritte ihres kleinen Bruders vervollständigt und bei der Fahrt durch die Gemeinde bei jedem leuchtenden Haus begeistert „Nicht dein Ernst!” ruft. Da ist das dritte Netz Rosenkohl und die vierte Packung Kloßteig und die Sorge meiner Mama, dass das Speisenangebot, welches natürlich nicht nur aus den beiden genannten Komponenten besteht, für vier Erwachsene und zwei Kleinkinder niemals reicht. Da ist die kleine Tochter meiner Cousine, die mir stolz ein Glitzerstein-Tattoo fürs Gesicht überreicht, damit wir wieder im Partnerlook gehen und wie Glitzer-Freundinnen um die Wette funkeln. Da ist die Erinnerung an Tante Anna, die der Welt das beste Rezept für Eierlikör hinterlassen hat und ich diesen jetzt nicht nur zu Weihnachten, sondern auch zu Ostern vom Mann meiner Cousine geschenkt bekomme. Da sind die Mandarinen, die mir geschält werden, weil ich das nicht mag und Baileys, den man schon ab 16 Uhr und auch zu Zoom Calls trinken darf.

Und während dieser Momente, die zu Erinnerungen werden, an mir vorbeirasen, ist dieses Jahr doch irgendetwas anders. Es ist ein diffuses Gefühl und ein Gedanke, den ich erstmals zulassen kann: Vielleicht ist es langsam Zeit für eigene Traditionen, für eine Choreographie, deren Ursprung meine eigenen Vorstellungen sind. Dass dies nicht bedeutet, Altes abzulehnen, sondern einfach Raum für Neues zu schaffen. Wie Spaziergänge zum Spielplatz und Diskussionen darüber, wie schwer der fiktive Entzug eines nicht vorhandenen Führerscheins wiegt und, was man aus Wut machen darf und, was nicht. Wie Resteessen aus den – Huch – doch übrig gebliebenen Klößen, Weihnachtsliedern auf der Quintolele, der Erkenntnis, was letzteres überhaupt ist und einem Sekt-Schwipps am Nachmittag. Wie das gemeinsame Schmücken von Tannenbaum Tatjana, Spaziergängen am dritten Weihnachtsfeiertag, der ja angeblich ohnehin der allerschönste sein soll, und spontanen freien Tagen zu Gunsten von langen Kaffee-Dates.

„Das beruhigt mich ungemein und ich bin fast versucht, das ganze als Revolution zu verkaufen und klugzuscheißen, dass diese nicht etwa Zerfall, sondern persönlicher Wachstum bedeutet.“

Da ich zum People-Pleasing neige, würde ich dieses doch kühne Vorhaben nicht einfach so herausposaunen, ohne eine gewisse Rückendeckung zu haben. Diese kann ich zwar nicht namentlich nennen, aber sie zeigt mir, dass ich mit meinem Gedanken nicht ganz alleine bin. Es scheint, als wäre er hier und da auch in anderen Köpfen unterwegs und würde langsam den Weg nach draußen finden. Mal ganz zart („Naja, ist ja doch ganz schön viel Aufwand und hin und her.”) oder manchmal auch etwas deutlicher („Nächstes Jahr machen wir das anders.”). Das beruhigt mich ungemein und ich bin fast versucht, das ganze als Revolution zu verkaufen und klugzuscheißen, dass diese nicht etwa Zerfall, sondern persönlicher Wachstum bedeutet. Bis es aber soweit ist, warte ich lieber nächstes Jahr ab. Vielleicht steh ich ja doch wieder in der Küche meiner Eltern, schäle das dritte Netz Rosenkohl und versuche mein Handy mit der verdammten Soundbox zu verbinden, damit Chris Rea singen kann, wie es ist, Weihnachten nach Hause zu fahren.

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