Mein Kopf wird ganz schwer und kippt langsam, aber zielsicher nach vorne. Dank meiner super noise-and-shit-cancelling Kopfhörer und meiner geschlossenen Augen findet alles um mich herum ohne meine Aufmerksamkeit statt. Die zarten Klavierklänge meiner morgendlichen Playlist dringen nur noch leise zu meinen Ohren. Als mein Körper jedoch kurz davor ist jegliche Spannung zu verlieren, das ist wirklich kein so langer Weg, und mein Kopf auf meine Knie aufzuschlagen droht, schrecke ich hoch. Weil ich von meinem eigenen Schnarchen wach geworden bin. In einem ICE zur Pendler-Primetime auf dem Weg in die Hauptstadt. Glückwunsch, Luise. Ich frage mich kurz, ob es ein Zeichen starker Müdigkeit, schiefer Nasenscheidewand, oder erschlaffendem Gaumensegel sein könnte oder aber Zeichen dafür, dass ich mich nach 16 Monaten des täglichen Pendelns einfach wie Zuhause fühle. Tatsächlich tendiere ich zu letzterer Diagnose, denn manchmal spüre ich eine gewisse territoriale Aggression in mir aufsteigen, wenn sich Menschen nicht so benehmen, wie ich es in meinem Zuhause für angemessen halte.
Noch vor 16 Monaten hätte ich mich nie im Leben getraut, jemanden darauf hinzuweisen, dass telefonieren über Lautsprecher eher semi-soziales Verhalten darstellt und zügig zu unterlassen ist. Oder als der Zug sehr voll war, sich die Leute schon in den Gängen stapelten und diese Typen der Meinung waren, dass ihre Taschen dringend eigene Sitzplatz benötigten. Sheriff Luise konnte das nicht zulassen. Ich war dann doch relativ überrascht, ob meiner eigenen Durchsetzungskraft, die gar nicht so viele Worte benötigte und dem Pärchen aus dem Gang zwei gemütlichere Sitzplätze bescherte. Immer wenn sich Fahrgäste echauffieren (“Siehste, Sybille, fährste einmal mit der Bahn, schon haste Verspätung und jetzt soll ich auch noch Maske tragen?”) möchte ich brüllen: “Ja, Norbert, hätteste dich mal mit deiner Sybille und den Leberwurstbroten in euren Fiat Multipla gequetscht. Da wäre uns allen geholfen.”
Noch ein paar Fahrten mehr und ich kontrolliere Tickets und verwöhne Fahrgäste im Bordbistro mit Kaffeespezialitäten. Pendeln verändert Menschen. Bei mir haben die grob gerechneten 700 Fahrten doch zu einer starken Reduzierung meines Privatlebens geführt, welch Überraschung. Noch zu Anfang meiner Pendlerkarriere, pries ich die Vorzüge an. Es seien ja nur anderthalb Stunden pro Strecke. Zeit, die man super zum Arbeiten oder Schreiben nutzen kann und die Fahrt am Morgen schlafe ich ohnehin. Was man auf den ersten Blick für Lobbyarbeit für die Deutsche Bahn halten könnte, bewerte ich, jetzt wo sich meine Zeit als passionierte Pendlerin dem Ende neigt, eher als Schutzmechanismus. Denn, wenn noch kein Ende in Sicht ist, hilft es ja auch wenig, sich permanent zu sagen, wie furchtbar die Situation ist. Dass ich wöchentlich dann doch etwa 20 Stunden im Zug verbringe, ist zweifelsohne völlig absurd. Ich habe es ja nun verstanden. Mein Job macht mir halt sehr viel Spaß, sage ich. Du bist zu sturr und kannst dich nicht von Leipzig lösen, sagen meine Eltern. Vermutlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Aber das ist bald vorbei. Nur noch zwölf Tage, also 24 Fahrten und dann ist es aus, vorbei, rien ne va plus und over.
Obwohl ich mich darauf freue, zukünftig zur Arbeit laufen zu können, mich nicht erst gefühlt kurz vor Mitternacht mit Freunden zu treffen, um dann nach ner Stunde wieder abhauen zu müssen und einfach mal Zeit für alles und nichts zu haben, werde ich auch einiges vermissen. Allem voran mein geliebtes Bordrestaurant, mein „Safe Place“. Wie oft saß ich weinend auf den roten Lederbänken, weil der Sekt einfach nicht meinem Verständnis von Preis-Mengen-Verhältnis entsprach, mir alles dann doch irgendwie zu viel war oder, weil meine Mama soeben angerufen hat, um zu sagen, dass meine Oma gestorben ist. Ich habe die meisten meiner Kolumnen im Bordrestaurant geschrieben. Und ja, auch meine BahnCard 100 werde ich vermissen, obwohl ich den Slogan “5 Gramm Freiheit” noch immer recht ungeschickt gewählt finde, aber vielleicht haben die bei mir auch einfach vergessen irgendwas beizulegen. Ich weiß es nicht. Teil eines exklusiven Clubs zu sein, fand ich schon immer gut, denn ich war begeistertes Mitglied des Tigerenten-Clubs. Würde mich Günter Kastenfrosch heute nach einem Date fragen, so wäre ich nicht abgeneigt.
Mit meinem Ausstieg aus dem Pendler-Game, verlasse ich den „exklusiven Kreis der 100“, lasse Vorzüge wie die DB Lounge, Schokolade, die mich „Lieblingsgast“ nennt und das anerkennende Nicken des Bahnpersonals zurück und fühle mich ein bisschen wie Meghan Markle, die ihren Zeh auch in das Becken der schier endlosen Privilegien gehalten hat und sich dann doch für das einfache Leben entschied. Sie tauschte Palast gegen ein klitzekleines Anwesen am Ende der Welt. Ich tausche ICE gegen Fahrrad. Ach, Meghan wir sind uns so ähnlich. Was uns dann doch unterscheidet, ist ganz klar unsere Präferenz, was Haarfarben bei Männern angeht und vielleicht der Umstand, dass ich keine Angst haben muss, zurückzukehren, weil ich mich im Guten getrennt habe. Letzter Halt: Leipzig. Der Zug endet hier. Luise, bitte aussteigen.
[T-Shirt by Zucker&Jagdwurst]
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