Es ist der Vorabend vor dem zweiten Lockdown in diesem Jahr – oder sagen wir korrekterweise dem Lockdown „Light“. An „Medium“ und „Heavy“ mag ich an dieser Stelle nicht denken. Ich bin Zuhause. Es ist ganz still. Ich blicke an die Zimmerdecke und versuche die letzten Stunden an diesem Wochenende noch einmal an mir vorbeiziehen zu lassen. Gefühlt fliegen alle Emotionen der vergangenen 48 Stunden immer wieder ganz wild durch meinen Kopf. In weniger als drei Stunden wird sich unsere Welt zum zweiten Mal auf den Kopf stellen. Diesmal sind wir vorbereitet und können unseren Alltag darauf einstellen. Aufgeregt bin ich nicht mehr. Ich weiß, was auf uns zukommen wird und wie ich mit den verordneten Einschränkungen ab dem 2. November umgehen muss. Es fühlt sich an wie ein Puzzle, das man zum zweiten Mal zusammenbringt. Man wird ruhiger und routinierter beim Zusammenfügen der einzelnen Teile. Wir wissen aber bereits seit dem Frühling: Die Welt geht nicht unter. Zumindest in diesem Jahr nicht deswegen. Sie dreht sich nur ein wenig langsamer weiter. Zusätzlich zu allem, was uns alle noch beschäftigt. Das dürfen wir nicht vergessen. Wir sitzen an diesem Freitagabend zum letzten Mal in einem unserer Lieblingsrestaurants und verabreden uns ganz bewusst zu einem besonderen Festmahl. Eine seltsame Stimmung liegt in der Luft. Ist schon wieder Silvester? Auf den Straßen liegen sich alle in den Armen, knutschen, umarmen sich und halten Gläser in die Luft. Sogar vor dem Matratzen-Outlet sammelt sich eine kleine Gruppe feierwütiger Südvorstädter, die Bier und Bluethooth-Box einfach von Zuhause mitbringen und einen der letzten Abende in Freiheit feiern. Der Späti um die Ecke verkauft ab 23 Uhr kein Bier und die Bars haben ihre letzte Runde hinter sich – da muss vorgesorgt werden. Ich könnte schwören, dass ich nur auf den Raketenknall gewartet habe. Aber er kam nicht.
Stattdessen stehen die Köche und Servicekräfte an diesem Abend hinter dem Tresen und winken uns zu. „Es hat Spaß gemacht mit euch. Macht es gut, bleibt gesund. Hoffentlich sehen wir uns schon im Dezember wieder!“, sagen sie zu uns beim Verabschieden und es bricht uns ein wenig das Herz. Daran glauben wir ehrlich gesagt noch nicht. Nach der Sperrstunde kommt nun auch noch die erneute Schließung auf alle Gastronomien und Kulturstätten zu. Es wirkt unverhältnismäßig, dass die Orte der letzten Monate, die sich so schwer über den Sommer ein Hygienekonzept erarbeitet haben, damit wir uns vergnügen können, jetzt schließen müssen. Die ZEIT schreibt sogar, dass Virologen bis heute darauf verweisen, dass sie eine Infektion in Theater- oder Konzertsälen für nahezu ausgeschlossen halten. Es bleibt nur ein großes Seufzen. Keine zehn Minuten später stehen wir in einer bummsvollen Bar, in der es, wenn es rein nach den Gästen gehen würde, einfach keine weltweite Pandemie gibt. Haben wir uns nur im Jahr getäuscht? Aber nein, leider nicht. Dabei sehnen wir uns genau nach dieser Nähe, Geselligkeit und Unbeschwertheit. Ein wenig später an diesem Wochenende lassen wir die Schnapsgläser beim Anstoßen klirren. „Ich trink ja eigentlich gerade keinen Alkohol“, höre ich mich noch sagen bevor ich lachend das Glas erhebe. Auf dem Heimweg spüre ich es wieder. Dieses leichte Gefühl. Mit einem Lächeln im Gesicht fahre ich durch den warmen Novemberabend nach Hause. Das war der letzte Abend vor der dem erneuten Lockdown. Er lässt komischerweise, trotz der Ausblicke auf Entbehrungen in den nächsten Wochen, ein gutes Gefühl zurück. Ich wünsche mir, dass es bleibt.
Ich weiß, dass wir alle durch die nächsten Wochen kommen und trotz Schutzverordnungen kleine Inseln für uns finden werden – damit meine ich einen Kaffee in der Sonne, einen Spaziergang durch den Wald, gemeinsam Online-Sport von Zuhause, gute Gespräche mit lieben Menschen, Selbstgekochtes am Abend, eine Blumenüberraschung für die Großeltern, Kuchen aus dem Lieblingscafé, eine gute Duftkerze im Home Office oder ein gemütliches Weindate. Irgendwie alles, das im Monat November sonst auch hilft – nur eben in der „Light“-Version. Vor allem wünsche ich mir aber eins: Dass wir uns nicht zurückziehen, dass wir nicht einsam bleiben und uns als Einzelkämpfer versuchen. Ich wünsche mir, dass wir uns einander anvertrauen, dass wir Hände, die uns gereicht werden, ergreifen, dass wir nicht zu schüchtern sind, um nach Hilfe zu fragen oder sie auch ungefragt anbieten. So gut wir es eben können. Egal, in welcher Rolle – und das nicht nur im Privaten. Oder wie R. sagte: „Hast du je in dieser Zeit erlebt, dass du um Hilfe gebeten wurdest?“ – warum eigentlich nicht? Wir haben viel um die Ohren, wir müssen viel organisieren, wir müssen uns um unsere psychische und physische Verfassung kümmern, wir müssen unser Business am Laufen halten und wir müssen unseren Haushalt schmeißen aber dennoch hoffe ich, dass wir nicht die Menschen und die Aufmerksamkeit für die kleinen Dinge um uns herum vergessen und uns verstecken. Wir kriegen das hin. Da bin ich mir sicher. Schließlich verbindet uns das alle.
Fotos (c) Robert Strehler Fotografie
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