Als hätte mein Leben meine ständige Fragerei nach dem Erkennungsmerkmal fürs Erwachsensein gehört und bei all meinen Gedanken und Erklärungsversuchen nur mitleidig den Kopf geschüttelt, um mir die Antwort dann unbarmherzig und voller Wucht ins Gesicht zu schleudern. Ich sitze im Bordbistro meines Wohnzimmers und meine Mama beginnt das Telefonat mit “Lieselotte, …” – das ist selten ein gutes Zeichen. Was sie mir sagen wird, schmerzt wie eine Ohrfeige, von der man zwar wusste, dass sie kommen würde, man aber von dem Schmerz dennoch überrascht ist. Meine Oma ist gestorben. Und so sitze ich weinend im ICE und wünschte mir, jemand würde mich einsammeln und nach Hause tragen. Ich versuche mich zu trösten. Damit, dass sie nicht länger leiden muss.
Mein Herz brüllt mich an, weil es das nicht tröstlich findet. Und es hat recht. Plötzlich sehe ich es ganz klar: Erwachsensein heißt auch seine Lieben beerdigen zu müssen. (Anmerkung: wer andere Familienmitglieder als den eigenen Wellensittich beerdigen musste, noch bevor weder das Kaufen von Schnaps, noch das Fahren eines Autos legal war, dessen Leben ist ein/e verdammte/r Hurensohn/-tochter. Das ist ein Fakt.) Jetzt schaue ich oftmals auf mein Handy und frage mich, wann mal wieder eine Whatsapp von ihr kommt. Dass wir viel zu wenige Gespräche geführt haben, die ich nicht veröffentlichen darf (“Mein Schatz, ich möchte nicht, dass du unsere Gespräche in dieses Internet setzt.”). Und dass ich schon viel zu lange keinen Cowboy-Smiley geschickt bekommen hab. Es ist die Angst, dass wir viel zu wenige Erinnerungen geschaffen haben. Auch wenn Freund Goethe sagt, dass man Dinge, die man tief in seinem Herzen trägt durch den Tod nicht verlieren könne. Ich traue ihm nicht ganz.
Als ich mich letztes Jahr in beruflicher Hinsicht selbst überrascht habe, sagte meine Oma schlicht zu mir: “Ach, mein Schatz, ich wusste das schon immer. Als du damals zu deinem Abitur die Abschlussrede gehalten hast, hab ich zu deinem Opa gesagt, dass wir uns um dich keine Sorgen machen müssen. Du schaffst alles”. Den Einwand, dass es dann aber erstmal ziemlich bergab ging ließ sie nicht gelten. Da war sie ganz strikt und schnörkellos. Meine Oma hat zu jedem kniffligen Ereignis, jeder Prüfung, jedem emotionalen Tal eine Kerze in der Kirche angezündet und hatte damit bei acht Enkeln stets alle Hände voll zu tun. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir unsere ganzen Erfolge, Abschlüsse und Wohlergehen diesen Kerzen und dem festen Glaube unserer Oma zu verdanken haben (Wir sind geliefert, Leute).
Die Erkenntnis, dass wir dieses Jahr ohne sie Weihnachten feiern, tut weh. Dass es dieses Jahr keine Diskussionen geben wird, wie sich Jesus Geschwister gefühlt haben, bei so einem berühmten Bruder. Ob Josef bei der ganzen Geschichte nicht doch irgendwie ein komisches Gefühl hatte. Und dass meine Mama dieses Jahr die Weihnachtsgeschichte ohne die soufflierende Unterstützung meiner Oma vorlesen muss. Meine Oma hatte bei Familienfeiern immer Sorge, dass es irgendwem nicht schmecken könne. Das ist vermutlich Grundvoraussetzung um den Titel “Oma” tragen zu dürfen. Also schwärzten wir mit Freude uns gegenseitig und vorzugsweise die neuen Mitbringsel der anderen an, obgleich diese schon den fünften Gang zum Buffet angetreten hatten. Wenn die Großeltern sterben, dann bröckelt der familiäre Kitt, der die ganze Bande zusammenhält. Es ist die Angst, vor dem familiären Zerfall.
Als der offizielle Teil der Beerdigung zu Ende ist, sitze ich mit meiner Cousine zusammen und wir sind traurig, müde, traurig und sprachlos. Und dann fällt uns ein, dass unsere Oma zu all ihren Social Events (der vollen Terminkalender meiner Oma hätte jedes Socialite erblassen lassen) gerne einen Campari-Orange serviert hat. Der furchtbare Geschmack passt zu unserer Stimmung. Jetzt sind wir also dran. In vielerlei Hinsicht. Vielleicht gehört auch das zum Erwachsensein. Puh, lieber noch ein Schluck Campari-O. Als ich letztlich meine kleine und ganz frische Nichte im Arm halte, fällt mir dieser bescheuerte Satz ein, dass immer auch jemand gehen muss, damit jemand neues hinzukommen kann. Es ist neben “Träume dein Leben und lebe deinen Traum”, der schlimmste Kalenderspruch, den ich kenne. Aber wenn ich so in ihr kleines Gesicht gucke und feststelle, dass sie genau den Gesichtsausdruck meiner Oma hat, wenn ihr etwas nicht gefällt. Die Queen hat ihre Handtasche um zu signalisieren, dass sie not amused ist. Meine Oma brauchte dafür nur eine winzige, fast unmerkliche Regung ihrer Mundwinkel. Dann bin ich ein klitzekleines bisschen getröstet. Vielleicht hat Goethe ja doch recht. Ich hoffe es so sehr.
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